Wissenswertes zu Utopien

Von Petra Schaper Rinkel · · 2022/Nov-Dez
© Sigrid Sandmann

In einer von Ungerechtigkeit, Gewalt und planetarer Zerstörung bedrohten Gegenwart führen Utopien als Gedankenexperimente vor, dass alles auch ganz anders sein könnte.

Epochen radikaler Umbrüche brachten jeweils eine Welle an wirkmächtigen Utopien mit sich: In der Renaissance wie in der Industrialisierung wurden Ungleichheit, Ungerechtigkeit und willkürliche Herrschaft in politischen Utopien gedanklich abgeschafft. Das befeuerte die Kämpfe gegen Sklaverei, Feudalismus und Ausbeutung.

Als Thomas Morus seinen Roman „Utopia“ von „der besten Verfassung des Staates“ 1516 veröffentlichte, prangerte er an, wie die expansive Schafzucht der Reichen im England seiner Zeit die Felder und Dörfer verwüstete und damit die Landbevölkerung vertrieb. Die Parallelen zur heutigen Vertreibung durch Rodungen im Amazonas, durch die Extraktion von Gold und seltenen Erden sind unübersehbar.

So wäre jetzt die richtige Zeit für neue Utopien – eben auf dem Stand der aktuellen Kämpfe und mit Regeln, die der Menschheit von heute entsprechen. Noch wissen wir von keiner, einige Prinzipien für die Utopien von morgen könnten jedoch ein Beginn sein.

Gerechte Verteilung. Vor 125 Jahren versinnbildlichte eine seinerzeit einflussreiche Utopie das Verhältnis von Arm und Reich als „riesenhafte Kutsche“, vor die „Massen der Menschen gespannt waren, um sie mühselig auf einer sehr hügeligen und sandigen Straße dahin zu schleppen“. Im komfortablen und gut geschützten Wagen saßen die Passagier*innen, „die niemals abstiegen, selbst nicht an den steilsten Stellen“. Jeder wollte um jeden Preis einen der Sitze ergattern, konnte sie nach Belieben vererben, aber eben auch herausfallen und damit fortan gezwungen sein, selbst „den Strick zu ergreifen“ und vor die Kutsche gespannt zu sein.

Dieses Bild von den USA hat Edward Bellamy 1987 in seinem Buch „Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887“, das gleich nach seinem Erscheinen zu einem internationalen Bestseller wurde, gezeichnet. Es passt heute in Zeiten der „Festung Europa“ nicht nur auf die sich zuspitzende Lage innerhalb der alten Industriestaaten, sondern ist global gültig.

Wenn Privateigentum und die Konzentration von Reichtum in den Händen einiger weniger die Probleme der Zeit sind, wie könnte die Welt denn anders funktionieren?

Bellamys Protagonist wacht im Jahr 2000 auf. Eingeschlafen war er im Jahr 1887. In der Welt des neuen Jahrhunderts verfügen alle über eine Kreditkarte, die jedem und jeder jährlich den gleichen Betrag gutschreibt. Bei hoher Lebensqualität geht es friedlich und zivilisiert zu, weil eben das Spannungsverhältnis von Eigentum, Arbeit und Lebensqualität in neuer Weise organisiert ist: Alle haben gleich viel Geld und können unterschiedliche Lebensentwürfe verfolgen, während nicht mehr das Geld, sondern die Arbeit ungleich verteilt ist – allerdings nicht ungerecht.

Wenn sich für eine gesellschaftlich notwendige Arbeit zu wenige Menschen finden, so wird die tägliche Arbeitszeit für diese Tätigkeit so weit heruntergesetzt, bis sich genug Interessierte finden. Wer ein Buch schreiben möchte, arbeitet wenige Stunden in einem unbeliebten Beruf, um genug Zeit zum Schreiben zu haben. Sollte sich das Buch gut verkaufen, kann eine Autorin oder ein Autor so viele Jahre weiterschreiben, wie die Einnahmen das Jahreseinkommen decken.

Mit seiner Utopie verweist Bellamy zu-gleich auf das utopische Verfahren: Den herrschenden Verhältnissen wird eine andere Welt gegenübergestellt, die die alles bestimmende Ungerechtigkeit aufhebt. Bellamys Idee, das Verhältnis von Arbeit und Einkommen grundlegend zu verändern, ist trotz des Welterfolgs seines Buches kaum aufgegriffen worden.

Wohl auch deshalb nicht, weil die politische Organisation der Ökonomie, in der eine Gerontokratie, also eine Herrschaft der Alten, den heutigen Ansprüchen an demokratischer Teilhabe, Geschlechtergerechtigkeit und politischer Freiheit nicht entspricht.

Gedankenexperimente. Utopien müssen nicht als Modelle begriffen werden. Vielmehr können sie mit ihren tragfähigen Ideen als Gedankenexperimente gelesen werden, die der von Ungerechtigkeit, Gewalt und planetarer Zerstörung bedrohten Gegenwart vorführen, dass es auch ganz anders sein könnte. Als solche können sie dann eben weitergedacht und neu konfiguriert werden.

Experimente zeichnen sich gerade durch den Wandel der Bedingungen aus, womit die Grundidee von Bellamy heute eine andere Form annehmen kann.

Denn: Mit der Zukunft von Automatisierung und Robotik ist immer weniger Erwerbsarbeit gesellschaftlich notwendig. Und so sind die (Zwangs-)Mechanismen, die in früheren Utopien erdacht wurden, damit alle ihren Anteil an Arbeit übernehmen, obsolet.

Eine erste Regel für die Utopien der Zukunft wäre insofern: Utopien sind keine Modelle. Vergangene Utopien können als frei zugängliche Ideen Ressourcen sein.

Wenn es eine weitere zentrale Regel gibt, die eine Utopie ausmacht, dann ist es die: Eine Utopie muss für alle gelten können. Futuristische High-Tech-Inseln für Reiche sind damit eben keine Utopie. Einige Tech-Unternehmer, wie der Silicon-Valley-Milliardär und Trump-Unterstützer Peter Thiel, wollen jenseits staatlicher Hoheitsgewässer künstliche Inseln etablieren, die frei von den Gesetzen und Einschränkungen existierender Staaten sind. Ihre Mitglieder wollen sich sowohl der Besteuerung sowie der Strafgewalt entziehen. Dort können dann private Armeen den eigenen Reichtum schützen und die dort Arbeitenden vollständig entrechten.

Damit ist die Welt innerhalb luxuriöser Gated Communitys oder privater Inseln gerade das Gegenteil einer Utopie. Mit ihrem Neo-Feudalismus wollen sie hinter sich lassen, was politisch von den Revolutionen der Moderne bis zu den globalen Kämpfen gegen kapitalistische Ausbeutung, Kolonialismus, Rassismus und Geschlechternormierung und -unterdrückung erreicht wurde – und in vielen friedlichen Gemeinschaften vor der jeweiligen Eroberung schon gelebt wurde.

© Sigrid Sandmann

Technologien für alle. Seit der Industrialisierung heißt Utopie immer auch, gedankenexperimentell Zukünfte zu erfinden, in denen die rasant auftauchenden wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten dem Miteinander der Menschen zugutekommen.

Das hört sich banal an, ist es aber nicht in einer Welt, in der die Produktivitätsgewinne dessen, was wir technischen Fortschritt nennen und was aus dem über Jahrtausende akkumulierten Wissen aller resultiert, von wenigen privatisiert werden.

Dies führt zu zwei komplementären Formen der Ausbeutung: Im Globalen Süden ist für globale Konzerne die Ausbeutung von Menschen so kostengünstig, dass Menschen die gefährliche und gesundheitsschädliche Arbeit in den Minen unter der Erde und in den urbanen Minen der Müllkippen ausführen, die in einer utopischen Welt den Robotern vorbehalten wäre.

Aber auch im Globalen Norden werden Menschen erneut zu Anhängseln der Maschine, wie etwa die Lagerarbeiter*innen bei Amazon, die in kürzester Zeit Bestellungen abarbeiten. Komplementär werden Tätigkeiten in der Forschung, Entwicklung und im Design industrialisiert und nötigen diejenigen, die hier in absurde Konkurrenz getrieben werden, sich aufzurüsten, um in der Maschinenwelt mithalten zu können.

Wurden den Utopien der Vergangenheit vorgeworfen, sie würden einen „neuen Menschen“ produzieren, so gilt dies heute für die Wirtschaft der Gegenwart, die eine transhumanistische Aufrüstung von Menschen erzwingt, die sich genötigt sehen, sich der Geschwindigkeit und Funktionsweise der Maschine anzupassen.

Die reale Dystopie hat jede historische Idee der Menschenumformung schon lange überholt und in ihr Gegenteil verkehrt, wenn die Algorithmen sozialer Medien bevorzugt besonders extreme Beiträge für ihre Nutzer*innen aussuchen, um die Aufmerksamkeit zu binden und eskalierende Interaktionen zu verstärken. 

Daraus ergibt sich ein Prinzip für die Utopien der Zukunft, die tatsächlich direkt an die Utopien der Vergangenheit anknüpfen kann und deren zentrale Frage lautet: Wie können Menschen global ihre Infrastrukturen und Technologien miteinander so organisieren, dass sie alle Menschen und alle Lebewesen weltweit in ihrer Existenzweise unterstützen? So sehen wir in den sich abzeichnenden Zukünften von wachstumsgetriebener Klimazerstörung und der zunehmenden Herrschaft des globalen Überwachungskapitalismus schon lange die Barrieren, die dem guten Leben aller entgegenstehen.

Noch hat sich kein Beispiel für eine global gültige Utopie eines guten Lebens für alle herauskristallisiert, aber seit einigen Jahren wird wieder danach gesucht und es existieren tausend Puzzlestücke aus Widerstand und solidarischem Miteinander.

Literatur-Tipp

David Graeber, David Wengrow:
Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit.
Klett Cotta, Stuttgart 2022, 672 Seiten, € 28,95

Initiativen zeigen es vor. Die Utopie und die Revolution von morgen können schon heute im Kleinen beginnen: Das zeigen die Initiativen von Solidarökonomien und Kooperativen auf allen Kontinenten, oder zum Beispiel Ideen, an Traditionen des kooperativen Miteinander in Afrika in einem neuen Afrotopia anzuknüpfen.

All diese lokalen Gemeinwohlstrukturen, globale digitale Open-Source-Netzwerke, urbane und ländliche Gemeinschaften, die solidarisch handeln, die sich wechselseitig helfen, die Gegenentwürfe leben und weiterentwickeln, wachsen innerhalb eines globalen Systems, das Eigennutz und Gier nicht nur duldet, sondern sogar fördert.

Wenn es so ist, dass dem Handeln von Menschen eben beides innewohnt – die Kooperation und die Konkurrenz, Altruismus genauso wie die Gier –, dann gilt es umso mehr, sich darüber zu verständigen, wie die sozialen und politischen Rahmenbedingungen aussehen können, die das Beste im Miteinander der Menschen ermöglichen und verstärken.

Die fantastischen lokalen Nischen des solidarischen Miteinanders (die früher wohl eher üblich als die Ausnahme waren, wie David Graeber und David Wengrow in ihrem fulminanten Buch über die Anfänge der Menschen in Gemeinschaften jüngst dargestellt haben) können allerdings nur dann eine gemeinsame globale Wirksamkeit entwickeln, wenn sie sich über die politischen und sozialen Bedingungen verständigen, die global gutes Leben langfristig für alle möglich machen, ohne den Planeten zu zerstören.

Politische Utopien sind dafür eine gute Grundlage, weil sie im Gegensatz zu Programmen und Forderungen beschreiben müssen, wie eine solche Welt im Ganzen im Alltag funktionieren könnte.

Petra Schaper Rinkel ist Politikwissenschaftlerin und Vizerektorin für Digitalisierung und Professorin für Wissenschafts- und Technikforschung des digitalen Wandels an der Karl-Franzens-Universität Graz. Sie ist Verfasserin von „Fünf Prinzipien für die Utopien von Morgen“ (2020), erschienen im Picus Verlag.

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